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Die früheste belegbare Ansiedlung jüdischer Familien in Güssing kann auf
die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts datiert werden. Umstände sprechen
dafür, dass es sich dabei um sephardische Juden handelte. Ein Bericht des
Jahres 1677 spricht von sogenannten „welschen“ Juden, die sich auf den
Besitzungen der Adelsfamilie Batthyány – Güssing war deren Stammsitz –
aufhalten sollen. Aus dem Bericht lässt sich schließen, dass es sich dabei
um sogenannte „Neuchristen“ handelte. Also Juden aus Spanien, die sich unter
dem Druck der Inquisition taufen ließen, jedoch weiterhin den jüdischen
Glauben im Geheimen ausübten und 1492 in großer Zahl emigrierten. Zentrum
dieser Emigration war Venedig, wohin auch geschäftliche Verbindungen durch
die Adelsfamilie Batthyány bestanden. Zwischen 1634 und 1646 werden auch
„neuchristliche Handwerker“ in Haushaltsabrechnungen der Güssinger
Herrschaft erwähnt.
Güssing war jedoch zunächst nur Filialgemeinde von Rechnitz und wurde nach
anhaltenden Unstimmigkeiten mit der Muttergemeinde zwischen 1728 und 1732
eigenständige Kultusgemeinde. Im Jahr 1750 wurde ihnen ein Teil des
Stadtmeierhofes gegen einen jährlichen Zins zur Nutzung als Synagoge und für
das Rabbinerhaus überlassen. 1799 willigte Graf Karl Batthyány einem Gesuch
der Kultusgemeinde zur Errichtung eines neuen Friedhofes im Mühlwinkel ein.
Der alte Friedhof befand sich am Rand des ehemaligen Stadtgrabens im
Grabenweg. Eine neue Synagoge wurde 1840 erbaut, die jüdische Schule 1854
gegründet, welche bis 1910 existierte. Die höchste jüdische Bevölkerungszahl
erreichte Güssing im Jahre 1859 mit 766 Personen. Seit 1860 siedelten viele
jüdische Familien jedoch ab, sodass im Jahr 1934 hier nur mehr 74 Jüdinnen
und Juden wohnten.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte das Ende jüdischen
Lebens in Güssing durch Vertreibung und Deportation. Am 12. März wurden
jüdische Kaufleute verhaftet und im Bezirksgericht inhaftiert. Öffentlichen
Erniedrigungen von Juden durch Nationalsozialisten folgte die Vertreibung an
die Grenze zu Jugoslawien und Ungarn, wo einige von ihnen wochenlang
ausharren mussten, bis sie eine Einreisebewilligung durch jugoslawische
Behörden bekamen. Andere wurden gezwungen nach Wien zu gehen, wo sie sich um
Ausreisepapiere und Visa bemühten.
Zu Beginn des Jahres 1938 dürften 77 Personen in Güssing wohnhaft gewesen
sein, nachweislich haben 24 den Holocaust überlebt und 14 Personen sind dem
Holocaust zum Opfer gefallen. Über den Verbleib der anderen 39 Güssinger
Jüdinnen und Juden ist nach dem jetzigen Stand der Forschungen nichts
bekannt.
Kurze Beschreibung des Rundganges
Der Rundgang beginnt in der Hauptstraße Nr. 2, wo die jüdische Schule
stand. Unterhalb der Schule befand sich das rituelle Bad, von den Güssinger
Juden „Tunkh“ genannt. Am Hauptplatz stand an Stelle des heutigen Rathauses
die zweite, im Jahr 1840 erbaute Synagoge. Ab 1938/1939 missbrauchten die
Nationalsozialisten das Synagogengebäude als Turn- und Festhalle. Im Jahre
1953 wurde es schließlich abgerissen und an seiner Stelle das Rathaus der
Stadt Güssing errichtet. Eine Gedenktafel im Eingangsbereich erinnert an die
jüdische Geschichte Güssings. Im ehemaligen Granarium an der Adresse
Clusiusweg 5 hatte bis zur Enteignung 1938 Josef Farkas seinen
Molkereibetrieb. Das von der jüdischen Familie Latzer geführte Wirtshaus
„Jockel-Wirt“ befand sich im Haus Pater-Gratian-Leser Straße Nr. 6. Von da
gelangt man auf den Marktplatz, wo sich die ersten jüdischen Wohnungen und
Einrichtungen Mitte des 18. Jahrhunderts befanden. Noch erhalten ist das
„Judengebäude“ genannte Haus auf der Adresse Marktplatz Nr. 2. In Hugo Golds
Publikation „Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes“
aus dem Jahr 1970 wird in einer Textpassage der Marktplatz beschrieben: „Der Marktplatz ist umsäumt vom Stadtmeierhof, vom Spitalhaus, der
Fleischbank, des Hofstetter Michael, von drei Wohnungen und Kaufläden, in
denen die Juden Micherl, Samuel und Mayerl Handel treiben. [...] Die heutige
Graf Draskovichsche Kanzlei diente 1750 den Juden gegen einen jährlichen
Zins von 20 Gulden als Synagoge [...]. Gleich daneben war die Einfahrt,
neben dieser eine Küche, Zimmer und Handkammer für den Juden Fischer, die
Wohnung des Rabbiners (Zimmer, Küche, Kammer). Unterhalb befand sich ein
Käsekeller, darunter die Wohnung des Juden Baruch Moyses mit einem Vorhaus,
von wo eine Schneckenstiege in den oberen Schüttboden führte; nebenan die
Wohnung des jüdischen Kürschners Klein, darunter ein gewölbter Keller, wo
die Juden Tunk gehalten haben, ferner eine Wohnung für Glaser Josef, dann
die des Juden Schmied Lewe, darüber ein Schüttboden und am Ende dieses
Gebäudes der Schachter Marx. Hier befand sich also unter dem Schutz der
Herrschaft das Judenghetto.“
(S 81).
Nur wenige Meter entfernt in der Dammstraße gelangt man zur sogenannten
„Judenbrücke“. Der früher in Güssing gebräuchliche Name war auf einen
rituellen jüdischen Brauch zurückzuführen. Gläubige versammelten sich hier
und sprachen ihre Gebete, während sie sich gegen die Flussrichtung
verneigten. Geht man die Dammstraße weiter und überquert die Bundesstraße,
zweigt wenig später die Stremtalstraße ab. Auf Nr. 1 befand sich die
Gemischtwarenhandlung von Jakob Weiß. Jetzt sind es nur wenige Meter bis zum
jüdischen Friedhof im Mühlwinkel mit der Adresse Stremtalstraße 13. Der
Friedhof wurde von den Nationalsozialisten geschändet und sämtliche
Grabsteine entfernt. Nach 1945 in Graz gefundene Grabsteine wurden auf den
Friedhof zurückgebracht und symbolische Grabsteine im Jahr 2001 aufgestellt.
Ein Interview mit der 1938 vertriebenen Güssingerin Sofie Kobrinsky ist am
Videokanal „Vertrieben“ zu hören.
Tipp: Das Burgenländische Geschichte(n)haus Bildein (23 km von
Güssing). 7521 Bildein, Florianigasse 1 | Tel. +43 (0) 3323 2597 oder
+43 (0) 3323 21999 |
www.geschichtenhaus.at | Ostersonntag bis zum 30. Oktober SA, SO
und Feiertage: 14 bis 17 Uhr, tägl. nach telefonischer Voranmeldung.
Das Auswanderermuseum dokumentiert die Wirtschaftsemigration im
19. und 20. Jahrhundert aus dem Burgenland nach Amerika. 7540 Güssing
, Alte Hofmühle, Stremtalstraße 2 | Tel. +43 (0)3322 42598 |
bg@burgenlaender.com | Mai
bis Oktober SA, SO und Feiertag 14-18 Uhr.
Publikationen in Auswahl
[1] Baumgartner, Gerhard: Die jüdische Gemeinde zu Güssing.
In: Spitzer, Schlomo (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Juden im
Burgenland. Studientagungen der Universität Bar-Ilan (1993) und dem
Friedenszentrum Stadtschlaining (1994). Wien 1995, S. 89-99.
[2] Beczak, Matthäus: Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Güssing.
Dipl. Arbeit an der Technischen Universität Wien. Wien 2015.
Publikation Online
[3] Halper, Philip: „Die jüdische Gemeinde in Güssing.“ Vertreibungen,
"Arisierungen" und Rückstellungen. Dipl.Arbeit Universität Wien, Wien
2012.
Publikation Online
[4] Lang, Alfred / Tobler, Barbara / Tschögl, Gert (Hg.): Vertrieben.
Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen. Wien 2004.
[5] Polster, Gert: Die Entwicklung der israelitischen Kultusgemeinden
Güssing, Rechnitz und Stadtschlaining in der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts [2010].
Publikation
Online
[6] Rothstein, Berth: Der „Béla von Güssing“ aus dem Burgenland
(Österreich) erzählt seine 70- jährige Lebensgeschichte. Frankfurt am
Main 1988.
Alle Interviews: Karl-Heinz Gober, BA, MA, 2020.
Kamera und Ton: Justin Ramon Kodnar
Schnitt: Justin Ramon Kodnar, Michael Schreiber
Website Gestaltung und Betreuung: Gert Tschögl
Die Videos wurden von der Burgenländischen Forschungsgesellschaft im Rahmen der Europäischen Tage der Jüdischen Kultur 2020 produziert.
Medienkooperation:
noviglas.online | Hrvatski akademski klub – HAK – Kroatischer akademischer Klub